Eine Woche ohne Wind

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Es war ein Sonntag im Mai. Was absolut nicht passte. Der Mai steht gemeinhin für Frühling, Aufbruch, Veränderung. Doch was kam war eigentlich keine Veränderung. Genauer gesagt war es eine Abnahme der Veränderung. Es begann völlig unmerklich, wie so vieles und schritt doch gnadenlos fort. Das Wetter war ruhig und sonnig. Fast zu schön für die Jahreszeit. Die Osterglocken hatten sich in voller Pracht aufgerichtet und reckten ihre strahlend gelben Sterne in den Himmel. Nach dem viel zu langen Winter, wie eigentlich jeder Winter zu lang ist, war es einer der ersten wirklich perfekten Tage. Die Stadtmenschen trafen sich im Park und manche bewunderten die ersten sonnenwarmgrünen Buchenblätter, die sich erst jetzt und zartweiß beharrt in die sonnengewärmte Frühlingsluft trauten.

Nichts störte die idyllische Atmosphäre, vielleicht nur war dieses Nichts etwas zu wenig. Die Meteorologie ist eine exakt unexakte Wissenschaft. Daher machte sich der Mann keine allzu großen Gedanken bei seiner Entdeckung, aber interessant war sie doch. Durch die starke Sonneneinstrahlung und das noch kalte Wasser hatte sich zwischen Meer und Land ein großer Temperaturunterschied gebildet. Es hätte Wind wehen sollen. Es wehte auch Wind, aber zu schwach. Sicher, es war nur eine Nachkommastelle. Vielleicht ein Messfehler. Wahrscheinlicher war etwas am Modell falsch. Obwohl. Nein, das erschien nicht plausibel, der Fehler musste in den Ausgangsdaten liegen. Das Modell war zu gründlich erprobt. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass die Realität falsch war. Sich nicht länger an die Regeln hielt, die die Physik ihr auferlegte.

So fing es an. Doch schnell nahmen die Messfehler zu und weiteten sich aus. Meteorologen registrierten offensichtlich falsche Messergebnisse, verzweifelten an Ihren Instrumenten oder Modellen. Alle Erklärungsversuche und Anstrengungen blieben ergebnislos. Auf der Suche nach einer Lösung wurde schließlich offensichtlich, dass das Phänomen ein weltweites war. Man stellte Hypothesen auf, dachte an einen äußerst raffinierten Computervirus, manche sprachen von einer Verschwörung, aber wirklich plausibel war keiner der Erklärungsversuche.
Schließlich musste man festhalten: Der Wind nahm stetig ab. Es schien als hätte die Luft eine merkwürdige Trägheit befallen. Eine Unlust, sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen, aufzusteigen, zu einem Ausgleich zwischen heiß- und kalt, Hoch- und Tiefdruck zu sorgen. Einzig in großen Höhen wehten noch stetige Winde, aber auch diese nahmen schleichend und unverkennbar ab, wurden langsamer und schwächer.

Sie waren seit sieben Jahren ein Paar.
Sieben lange Jahre, wie er im Stillen dachte. Er mochte sie, das war ihm klar. Warum wusste er dagegen nicht so genau. Eigentlich hatte er aufgehört sich diese Frage zu stellen. Noch mehr als Langeweile hasste er Einsamkeit. Er hatte seine Wahl getroffen, was nützte es, diese ständig in Frage zu stellen. Sie unternahmen Reisen und Ausflüge, waren Beobachter einer ruhelosen Welt. So sammelten sie immer mehr gemeinsame Erfahrungen und fanden doch keine gemeinsame Sprache. Instinktiv hatten sie gelernt, der unbewegten Stille auszuweichen, da sie zwischen ihnen die Leere wachsen ließ.
Sie schauten Filme oder gingen ins Theater. Er hätte viel zu erzählen gehabt. Gedanken und Gefühle, die erst beim Reden wachsen würden – aber schaffte es nicht, sie ungeschliffen, provokant und verletzlich der Stille zwischen ihnen auszusetzen.

Er hatte den Wind immer gemocht, war das erste was er dachte, als sie es endlich in den Nachrichten brachten. Seine Gedanken formulierten es wie einen Nachruf auf einen guten Freund. Gleichzeitig blieb er eigenartig ruhig. Es erschien ihm wie ein seltsam logischer Schluss, als wären die Naturgewalten plötzlich zu Ironie befähigt. Merkwürdig, wie in einer ratlos verzweifelten Dramatik über etwas berichtet wurde, dessen Dramatik gerade in dem Ausbleiben jeglicher Dramatik bestand. Oder konnte man das so nicht sagen, und war Veränderung das richtige Wort, oder Dynamik, oder die fehlende Reaktion auf Unterschiede?
Jedenfalls taugte es nicht zum medialen Ereignis und gerade das machte es für ihn so faszinierend. Zuzuschauen, wie endlose Sondersendungen daran scheiterten, eine Erklärung oder wenigstens eine passende Darstellung für etwas zu finden, das im Ausbleiben von Antworten und Bildern bestand.

Das Licht des Fernsehers flackerte hypnotisierend auf ihren Gesichtern, die in der Stille lagen. So saßen sie schweigend nebeneinander auf dem Sofa und schauten zu wie die mediale Menschheit im Angesicht des schleichenden Stillstands in hektische Betriebsamkeit verfiel.
Sie brüllten, hämmerten auf Blechdosen ein, aber es kam keine Antwort und das macht es nur noch erschreckender. Es war der Sturm im Angesicht ewiger Ruhe.

Als der Wissenschaft nur noch die Erkenntnis der Unwissenheit blieb (auch wenn viele ihrer Vertreter sich immer noch nicht in das Schweigen fügen wollten) meldeten sich die Kirchen und Religionsführer zu Wort. Doch auch in ihrer Welt fand sich keine Erklärung. Es wurde nur weiter wortreich die Leere gefüllt. Dies konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf Chaos und Zerstörung vorbereitet waren, aber nicht auf ein Übermaß an Ordnung.
Selbsternannte spirituelle Führer, die es immer schon gewusst hatten, stellten absurde Theorien auf und riefen zu allerlei nutzlosen Handlungen auf. Immerhin blieb dem Fernsehen noch eine seiner letzten Sternstunden, bevor es bedeutungslos wurde.
Vielleicht musste man nur genügend enttäuscht von der Oberflächlichkeit des Selbst und diesem merkwürdigen negativen Beharrungsvermögen der Weltgeschichte sein, um die adäquaten Worte zu finden. Verbittert, aber auch mit müder Weisheit. Ein zynischer und tiefsinniger Kommentar zum Weltgeschehen, funkelnd zwischen belanglosen Geschnatter. Ein später Triumph über den vorauseilenden Quotengehorsam.
Ansonsten blieb ein fahl flackerndes Unterhaltungsfeuer, das die Menschheit von der Anstrengung des eigenen Denkens bewahrte. Bis es erlosch.

Er schaute zu, wie das Weltgeschehen allmählich zum Erliegen kam. Wie kein Wind die verbrauchte und verschmutzte Luft der Städte mehr über den Erdball verteilte. Wie sich unheilvolle, schwarze Wolken über den Schornsteinen bildeten, der Smog auf den Straßen undurchdringlich wurde. Wie erst die Fabriken geschlossen und schließlich der Autoverkehr verboten wurde.
Und der Wind weigerte sich weiter, für einen Ausgleich zu sorgen. Als wollte er nicht länger Handlanger der Menschen sein, machte er nun sie zu seinen Sklaven.

Sein Blick wanderte in die Ferne, als es nichts mehr zu sehen gab. All seine Ideen, seine Pläne, seine Hoffnungen waren körperlos geworden. In das Stechen mischte sich auch Befreiung. Seine Augen begannen die Schemen auf dem Bildschirm zu fokussieren und er empfing ihr dunkles Spiegelbild. Er sah, wie er und eine Frau im Schweigen nebeneinander auf dem Sofa saßen. Erstarrt im gedämpften Licht eines Freitags im Angesicht eines Wochenendes, dem jeglicher Sinn abhanden gekommen war.
Er stand langsam auf und öffnete das Fenster. Erst jetzt wurde ihm klar, wie verbraucht die Luft im Zimmer gewesen war. Und erst jetzt wurde ihm klar, dass auch er Teil war, dass es keine Beobachter gab, wenn der Wind stehen blieb, dass die Luft in den Räumen verbraucht sein würde, dass sie irgendwann ruhelos wie die Haie Tag und Nacht in ständiger Bewegung bleiben müssten, um frische Luft durch ihre Lungen atmen zu können. Als würden sie die originäre Aufgabe der Luftmoleküle übernehmen, sich verteilen, aufeinandertreffen, sich abstoßen, weiterwandern, bis sie nicht mehr könnten und der Schlaf käme.