Julia Engelmann (Reckoning Text) – eine Entgegnung



One day baby, we’ll be old, and think of all the stories that we could have told…

Ja und eines Tages werden wir alt sein und wir werden dasitzen. Doch wem werden wir dann all unsere Geschichten erzählen, von all den tollen Sachen, die wir erlebt haben? Kinder? Für Kinder war keine Zeit. Unser großen Liebe? Wir hatten hundert, weil wir sie alle fühlen, ausprobieren und entdecken wollten. Aber geblieben ist keine, weil wir nicht geblieben sind. Weil wir immer weiter mussten. Auf das nächste Hausdach, den nächsten Berg, das nächste Abenteuer, das nächste Big Thing.
Wir werden unsere Geschichten auch nicht später irgendeinem Gott an irgendeinem Himmelstor erzählen können. Denn wir haben kein Gott, wir haben nichts, nur hübsch angemalte Yolo-leere, wir sind die Generation sonnig ironischer Hedonismus. Wir tun hedonistisch gute Dinge. Für welches gut oder schlecht keine Ahnung. Aber hey die Welt ist eh scheißkompliziert, also zwinker, zwinker, haha, du weißt schon. Nein ich weiß nicht und wir wissen nicht.
Trotz unser zwanzigfachen Panzer aus Ironie und vorauseilender Selbstverteidigung wirft uns schon so ein kleines Internetvideo von dir aus der Achterbahn. Wir verdrücken eine Träne wegen der Rührung – oder war es der Fahrtwind? – schwören uns alles anders zu machen und noch ein bisschen mehr Gas zu geben und haben es wieder einmal vermieden über die Richtung nachzudenken. Denn eine Richtung hat unser Leben schon lange nicht mehr. 1000 hat es. Vernetzt wie das Social web, wie unser nächster Wahrheit-des-Tages-Post bei Facebook. Oder unser Spendenaufruf für irgendwas, an das wir uns morgen schon nicht mehr erinnern werden. Die digitale Veränderung erscheint nur einen Klick entfernt, aber die Veränderung in der realen Welt, die bleibt unendlich viele müselige Schritte weit weg. Aber wir sind immer nur bereit den ersten zu gehen. Jeden morgen einen anderen ersten. Unser Problem ist doch nicht das Anfangen unser Problem ist doch schon längst nur noch das dranbleiben.
Deines übrigens nicht. Du bist drangeblieben. Du hast deinen Text geschrieben. einmal. Wieder verworfen. Zweimal. Überarbeitet. Dreimal. Nochmal verändert. Viermal. Angefangen ihn auswendig zu lernen. Fünfmal. Vor Freunden oder dem Spiegel geübt. Sechmal. Nicht auf dem Dach der Welt – unter irgendeinem Dach auf der Welt. Siebenmal. Bist mit diesem oder einem anderen Text aufgetreten. Achtmal. Nicht vor Millionen im Internet, vor zwanzig plus x bei irgendeinem schlecht besuchten Slam. Trotzdem nicht ins Finale gekommen. Neunmal. Wieder versucht. Zehnmal. Und dann ein halbes Jahr nach der Aufzeichnung plötzlich Bäm. Dein Video gesehen von Millionen plus x. Und davon träumen wir doch alle. Von dem BÄM. Aber für die meisten von uns wird er niemals kommen, der große Urknall. Kann niemals kommen. Das ist nichts als simple Stochastik. Öde, dämliche, entmutigende Stochastik. Wir machen die wildesten Sachen und filmen uns dabei, aber meist zerbrechen höchstens unsere Knochen oder die Träume.

One day baby we’ll be old…

Denn Mut ist kein Anagramm auf Glück. Tmu wäre ein Anagramm auf Mut. Oder Utm. Das ist nicht witzig. Der eigentliche Witz ist: Glück hat keine Anagramme. Glück ist so scheiß flüchtig, jeden Tag anders und schrecklich eigen. Mut ist wenn überhaupt nur eine Teilmenge von Glück. Mut kann einen sogar verdammt unglücklich machen und trotzdem kann es richtig gewesen sein mutig zu sein.
Aber das ist nicht die Form von Mut, von der du redest. Lass uns feiern bis die Wolken wieder lila werden? Das ist Mut für den Moment. Aber Mut ist auch eine Variable über die Zeit. Und darin steckt nicht immer Glück aber so etwas wie Zufriedenheit immer wieder neuen Mut aufgebracht zu haben. Lass uns mal nicht feiern, lass uns mal keinen Marathon laufen, lass uns mal was machen was überhaupt keiner feiert. Lass uns mal für etwas stehen. Lass uns mal das wenigste aus der Nacht aber das meiste aus dem Tag machen. Lass uns mal wirklich die Masken abnehmen und zu Dingen stehen die unpopulär, nervig und anstrengend aber richtig sind. Lass uns mal konkret werden. Angreifbar. Auf Fleisch verzichten und trotzdem keinen Porsche fahren zum Beispiel. Lass uns mal den anderen überhaupt nicht gefallen, aber auf uns selber stolz sein. Lass uns mal weniger auf den äußeren Schein geben. Lass uns mal scheiße aussehen. Lass uns mal alt werden.
Denn uns ist bewußt, dass wir alt werden. viel zu bewußt. geradezu schmerzhaft bewußt. weil da nichts mehr kommt, sterben wir mit jedem Haar und jeder Falte nicht das ewige Leben sondern den ewigen Tod. Also versuchen wir alles in den Moment zu bekommen bis das Leben so komprimiert ist wie ein perfekter Popsong mit 3 Minuten zwanzig. Aber das Leben ist nicht Drei Minuten zwanzig. Und wir sind keine entseelten beschleunigten Teilchen. Wir sind Menschen auf der Suche, wir kämpfen, wir lieben, wir scheitern, wir gewinnen immer nur auf Zeit. Also lass uns mal die Zeit für uns arbeiten lassen. Lass uns kleine Schritte gehen.
Lass uns jemanden finden, der uns für das liebt was wir sind, nicht für das was wir gerne sein würden aber vielleicht nie sein werden. Und ja lass mal an uns selber glauben. Lass uns weniger Videos und Wahrheiten schauen, die wir eigentlich schon längst wußten und mehr unser eigenen Wahrheit trauen. Weil objektiv alles wahr sein kann, aber subjektiv nur wir unsere Wahrheit kennen.

One day baby I’ll be old…

Deswegen werde ich heute ein bisschen mein Leben verändern wie jeden Tag und dann will ich jemanden, der mit mir einen stumpfen Film anschaut. Weil meine Wahrheit ist, dass mir auch Partys auf Dauer nichts geben, was nicht von Menschen käme und Konfetti auch nur beim ersten Mal als eine gute Idee erscheint. Deswegen schau ich mir manche dumme Idee lieber auf dem Bildschirm an.
Ich mach uns vorher noch eine Pizza. So richtig mit Teig und so. Sicher nicht die beste der Welt, aber einen ziemlich geile. Und du bringst mir einen Tee wenn ich da liege und mein Scheißhals wieder wehtut. Weil ich, wie ich halt bin, unbedingt noch auf das Dach musste und es da oben leider einfach nur dreckskalt und windig war. Und der Ausblick? Der war bei dem Wetter auch für die Tonne. Also ja. Lass uns leben. Und wenn wir morgens aufwachen, es endlich Frühling ist und die Sonne scheint, dann lass uns gemütlich frühstücken. Aber nicht auf einem kalten, zugigen Dach sondern auf einem warmen Balkon, der in liebevoller Kleinarbeit ergrünt und jetzt ein kleines Paradies auf Zeit ist. Wie das Leben immer nur ein Paradies auf Zeit ist.
Lass uns, lass uns, lass uns Luft holen und dann den täglichen Kampf mit neuer Kraft aufnehmen. Mit uns, mit der Welt, mit der Zeit, mit dem Leben. Für etwas an das wir wirklich glauben, so lange wir die Kraft dafür haben. Mit einem Lächeln und Musik. Lass uns große oder kleine Pläne haben und Beharrlichkeit. Und in 40 Jahren werden wir dann vielleicht nicht mehr auf einem Balkon sondern in einem sonnigen Dachgarten sitzen und bei dem für uns verdammt noch mal besten Kaffee der Stadt feiern was wir alles kleines bewegt haben. Ich habe keine Ahnung, was wir erzählen werden. Geschichten, Meinungen oder immer noch Träume. Aber es wird schön sein. Und der Ausblick: Hammer.

Aber das. Das ist wieder nur meine komprimierte Wahrheit in 3 Minuten 20. Was ist deine?